Transnationales ExpertInnenforum

Sprache und Migration

Nachhaltige Sprachförderung
Mindeststandards für das Bildungswesen in einer Zuwanderungsgesellschaft

 

Abschlusserklärung des
5. Trinationalen ExpertInnenkolloquiums „Sprache und Integration“

WIEN IM Februar 2008

 

GRUNDSÄTZE

Zuwanderung in Einwanderungsgesellschaften wie in Österreich bedeutet eine kulturelle und sprachliche Bereicherung, wenn die Integration als gegenseitiger Lern- und Entwicklungsprozess begriffen wird. Dabei stellt zwar der Erwerb der deutschen Sprache einen wichtigen Bestandteil dar. Die Sprachförderung muss aber in eine Förderung der sozialen und beruflichen Eingliederung eingebettet sein, die MigrantInnen müssen von Anfang an Gelegenheit zur Teilhabe an der Gesellschaft des Aufnahmelandes erhalten, soll der Integrationsprozess gelingen. Dieser stellt einen langfristigen Entwicklungsprozess dar, der nicht in Kursstunden und über Prüfungen gemessen werden kann und der umso eher gelingt als die MigrantInnen in der Alltagspraxis der Institutionen, Medien und BürgerInnen die österreichische Gesellschaft ihrerseits als offen für sprachliche und kulturelle Vielfalt erleben. Auch im Kontext von Migration spielt die Geschlechtszugehörigkeit und -zuschreibung eine wesentliche Rolle in Lern- und Bildungszusammenhängen. Geschlechtersensible und geschlechtsspezifische Sprachförderangebote müssen daher u.a. Kinderbetreuungsplätze bereitstellen, Berufstätigkeit berücksichtigen und den jeweiligen Lebenszusammenhängen entgegenkommen.

 

FORDERUNGEN

1. Mehrsprachigkeit als allgemeines Bildungsziel

Jede Entwicklung von Mehrsprachigkeit beruht auf dem Recht jedes Individuums auf seine Erstsprache. Im Bildungswesen wird von einsprachigen deutschsprechenden Individuen als „Norm“ ausgegangen und die spezifische Situation von mehrsprachigen Lernenden wird nicht ausreichend berücksichtigt. Fördermaßnahmen sollten nicht länger auf das Bildungsziel „Deutschkompetenz“ abzielen, sondern auf eine Mehrsprachigkeit, die die Entwicklung der Deutschkompetenz beinhaltet. Das verlangt u.a. mehrsprachige Sprachstandserhebungen im Vorschulbereich, stufenübergreifenden Deutschförderunterricht oder Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt als Inhalt pädagogischer Ausbildungen.
Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt wurden zwar teilweise als Ressource anerkannt, aber es fehlt eine konsequente Umsetzung für einen verantwortungsvollen Umgang damit (Lernangebote in verschiedenen MigrantInnensprachen, mehrsprachige Informations- und Kommunikationspolitik, mehrsprachiges Personal auf allen Hierarchieebenen etc.). Dazu gehört die Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit bei der Leistungsbeurteilung bis hin zur Matura, dazu gehören insbesondere bilinguale Bildungsangebote vom Kindergarten an.
Der Anspruch von MigrantInnenkindern auf umfassende Sprachförderung, d.h. auf Förderung in der deutschen Sprache und in ihrer Herkunfts- bzw. Familiensprache, sollte rechtlich verbindlich verankert werden. Eltern muss der Mehrwert einer mehrsprachigen Erziehung vom kognitiven Gewinn bis zu den Vorteilen in der Berufswelt erklärt werden.

 

2. Differenzierung der Angebote

Sprachliche und kulturelle Vielfalt der Lernenden erfordern den Verzicht auf ein bis ins Detail vorgeschriebenes Einheitsangebot an Sprachkursen und Prüfungen zu Gunsten einer Vielfalt von Angeboten. Den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Lebenssituationen und Berufsperspektiven ist Rechnung zu tragen.

 

3. Ressourcenorientierung und Kompetenzwahrnehmung

Menschen in der Migration besitzen vielfältige Kompetenzen, die innerhalb der herrschenden Strukturen der Mehrheitsgesellschaft nicht wahrgenommen und genutzt werden. Stattdessen werden die Kenntnisse von MigrantInnen in vieler Hinsicht als defizitär angesehen und damit ihr Selbstkonzept negativ beeinflusst. Für eine positive Nutzung und Wahrnehmung sind z.B. differenzierte Kompetenzerfassungen (z.B. Einbezug anderer Sprachen als Deutsch bei Sprachstandsfeststellung oder Einsatz von Portfolios), eine Didaktik, die Fragen an Lehrende stellt, Erhebungs- und Anerkennungsverfahren für mitgebrachte Kompetenzen und Qualifikationen notwendig.
Das Bildungswesen muss die Potenziale der Lernenden verstärkt und umfassend nutzen, da diese in der Regel hohes Interesse an einem beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg in der Einwanderungsgesellschaft haben.
Anderssprachige Eltern sind nicht als Störfaktor, sondern als wichtige Ressource und Mittler in die Schulgestaltung einzubeziehen. Das gesamte Lebensumfeld der Lernenden ist als Rahmenbedingung für erfolgreiche Bildungsarbeit zu berücksichtigen.

 

4. Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte

Unterrichtende in mehrsprachigen LernerInnengruppen stehen vor vielfältigen Herausforderungen, deshalb müssen die Rahmenbedingungen des Unterrichts verbessert und entsprechende Schwerpunkte in den Aus- und Fortbildungsinhalten gesetzt werden (sprachdidaktische Kompetenzen, interkulturelle Kompetenz etc.). Unterrichtende sind mehr als nur Lehrende, sie übernehmen eine zentrale Mittlerfunktion zwischen den ZuwanderInnen und der Aufnahmegesellschaft.

Unterrichtende stehen außerdem oft vor strukturell verursachten Konfliktsituationen, die individuelle Ressourcen nicht selten überschreiten. Prüfungssituationen, deren Ausgang existentielle Konsequenzen für Lernende haben, sind ein Beispiel dafür. Die Entwicklung und der Einsatz von Bewertungssystemen, die fördern und nicht selektieren, die Aufwertung von muttersprachlichen Lehrenden oder der Einsatz von unterstützenden SozialarbeiterInnen und KulturmittlerInnen sind erforderlich.

Für die Professionalisierung in der Praxis durch bezahlte Teamsitzungen und Teamteaching sowie Forschendes Lehren sind entsprechende Ressourcen zu schaffen.

 

5. Beschäftigung von mehrsprachigen Fachkräften in regulären Beschäftigungsverhältnissen auf allen Hierarchieebenen

Das Bildungswesen ist auf die spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen von MigrantInnen angewiesen: Entscheidend sind spezifische Ausbildungsangebote für MigrantInnen als TrägerInnen wertvoller Kompetenzen in allen pädagogischen Berufen, ihr Anteil ist deutlich zu erhöhen. Die mitgebrachten Qualifikationen der Unterrichtenden für die Herkunftssprachen sind weiterzuentwickeln mit dem Ziel einer allgemeinen Lehrerqualifikation. Ihr Status ist dem von österreichischen Lehrkräften gleichzusetzen.

 

6. Kontinuität und Nachhaltigkeit in den Übergängen zwischen Bildungseinrichtungen

Die momentanen Angebote der sprachlichen Förderung beschränken sich auf punktuelle Maßnahmen. Diese Konzeption von Sprachförderung übersieht, dass Sprachbildung sich über die gesamte Ausbildungszeit hinweg erstreckt und nie aufhört (Prinzip des „lebenslangen Lernens“!).
Eine Nachhaltige Sprachförderung braucht ein Gesamtkonzept (Kontinuität an den Nahtstellen des Bildungssystems, Dialog zwischen den Bildungsinstitutionen, gemeinsame Ausbildung aller pädagogischen Berufe auf Hochschulniveau etc.), das auch individuelle Förderung berücksichtigt (Berücksichtigung von Vorkenntnissen, Lernberatung etc.). Bei der Entwicklung eines Gesamtkonzepts müssen die MigrantInnen selbst, Lehrende und SozialarbeiterInnen aus dem Praxisfeld sowie die vorhandenen wissenschaftlichen Expertisen eingebunden werden. Elternarbeit und Bildungsberatung müssen kontinuierlich und Schulstufen übergreifend angeboten werden.

Strukturelle Rahmenbedingungen müssen dahingehend geändert werden, dass muttersprachlicher Unterricht für alle Lernenden geöffnet und in den Regelunterricht gleichwertig (am Vormittag) aufgenommen wird. Die Angebote and den BHs müssen gestärkt werden.

Schulen sind finanziell und personell in die Lage zu versetzen, ihrer Verpflichtung zur Förderung der Bildungssprache Deutsch ebenso wie der Entwicklung der Mehrsprachigkeit nachzukommen (Sprachförderpflicht).

 

7. Öffentlichkeitsarbeit

Nachhaltige sprachliche Bildung braucht eine Sprachenpolitik, die sich in ihren Grundsätzen zur Förderung von Mehrsprachigkeit bekennt, aktive Maßnahmen unterstützt und Strukturen schafft, die dem Recht auf Sprachen und individueller mehrsprachiger Sprachentwicklung Rechnung trägt, anstelle ausschließlich Deutsch als Pflicht zu propagieren und einzufordern. In diesem Sinne sind Beispiele guter Praxis öffentlich zu machen. Lehrende und Lernende sind auf eine öffentliche Unterstützung durch die Politik angewiesen und dürfen diese zu Recht einfordern.

 

Die über 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung „Nachhaltige Sprachförderung“ am 28. und 29.2.2008