Transnationales ExpertInnenforum

Sprache und Migration

Integration fördern – Menschenrechte verwirklichen
Förderung von Chancengleichheit in Bildungsprozessen

 

Abschlusserklärung des
6. Transnationalen ExpertInnenforums „Sprache und Migration“

Frankfurt am Main im November 2008

 

Nachdem man dem Bildungssystem noch vor Jahren zu Recht vorwerfen konnte, dass es in all seinen Bereichen nur unzureichend auf die Erfordernisse der Arbeitswelt vorbereitete, ist in jüngster Zeit zu beklagen, dass Bildung fast nur noch mit beruflicher Qualifizierung und mit der Vermittlung arbeitsmarktorientierter Kompetenzen gleichgesetzt wird. Im Bereich Weiterbildung wird diese Tendenz besonders deutlich, wenn man sie auf das Konzept des „lebenslangen Lernens“ bezieht. Vom Standpunkt der fest angestellten, gut qualifizierten und karrierebewussten Arbeitnehmenden der Mittelschicht war eine kontinuierliche Weiterqualifizierung, die nicht nur die eigene Qualifikation sichert, sondern auch berufliches Fortkommen und persönliche Weiterentwicklung ermöglicht, eine attraktive Idee. In einer sich durch die Globalisierung wandelnden Gesellschaft werden Bildung und Weiterbildung jedoch zunehmend auf den Status arbeitsmarktpolitischer Instrumente degradiert. Menschen werden zur Teilnahme an „Maßnahmen“ verpflichtet, in denen ihre individuellen Bedürfnisse und Bedarfe häufig zu wenig Berücksichtigung finden, und nicht selten dienen die Maßnahmen der Kontrolle und Disziplinierung der Betroffenen.

Das Bildungssystem wird von der Gesellschaft immer weniger als Gestaltungsraum für die Lebensführung der Einzelnen und für das gesellschaftliche Zusammenleben verstanden und immer mehr auf Funktionen eines Reparaturbetriebs für Probleme reduziert, die durch Versäumnisse im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Handeln entstanden sind. In der gegenwärtigen Situation, in der Mobilität als Voraussetzung für jedwede Entwicklung postuliert wird und Wanderungsbewegungen normal sind, wird jedoch deutlich, dass das existierende Bildungssystem nicht einmal mehr diesen reduzierten Auftrag erfüllen kann. Es ist daher an der Zeit, den Bildungsauftrag und seine Umsetzung, auch im Kontext der Migration, neu zu überdenken.

Von entscheidender Bedeutung ist dabei die sprachliche Bildung. Die Gesellschaft muss erkennen, dass Sprachen nicht nur dazu dienen, Informationen auszutauschen und Arbeitsprozesse zu organisieren, sondern dass der Gebrauch von Sprachen konstitutiv für die Persönlichkeitsbildung der Einzelnen und für die Hervorbringung und Sicherung ihres gemeinschaftlichen Zusammenlebens ist. Sprachliche Bildung muss deshalb zur zentralen Aufgabe der Gesellschaft gemacht und als partizipativer Prozess gestaltet werden.

SprecherInnen aller Sprachen haben ein Interesse an der Entwicklung einer gemeinsamen Form des Zusammenlebens. Eine zukünftige Didaktik muss daher darauf abzielen, eine Begegnungs- und Kommunikationskultur für alle zu schaffen. Für den Bereich des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) bedeutet dies, dass die bisherigen Lernstrukturen, die immer ein Machtgefälle zwischen Lernenden und Lehrenden etablieren, aufgelöst werden müssen.

Entwickelt werden muss

  • eine Didaktik des gemeinsamen sprachlichen Lernens in Alltag und Beruf;
  • eine Didaktik der Ermutigung und nicht der Entmündigung und Kontrolle;
  • eine Didaktik der geteilten Verantwortung.

 

Die Didaktik des DaZ-Unterrichts bzw. die Sprachförderung muss somit

  • Lernen „in Gesellschaft“, in der Sprachpraxis, im Sprachkontakt mit Sprechenden der Zielsprache unterstützen;
  • zu einer lernförderlichen, ermutigenden Begegnungskultur beitragen;
  • Möglichkeiten des Lernens „am Fall“ (Szenarien, tasks) bieten;
  • das Handeln mit Sprache ins Zentrum rücken;
  • ein Lernangebot schaffen, das neben der alltagssprachlichen auch die bildungssprachliche Kompetenz trainiert;
  • Lernen vor Ort unterstützen, zum Beispiel in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz;
  • Anschaulichkeit, Verständlichkeit in der beruflichen (fachlichen) Weiterbildung fördern;
  • das Training von Lern- und Kommunikationsstrategien statt der Vermittlung von Inhalten ins Zentrum rücken.

 

Der angesprochene Paradigmenwechsel gilt auch in der Forschung. Für das Fach DaZ gilt daher:

  • Forschung muss ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen und ihr fachlich gerecht werden;
  • Forschung muss stärker prozessbegleitend und handlungsorientiert sein;
  • Forschung muss die ganze Person in ihrer biographischen Perspektive und sozialen Vernetzung berücksichtigen.

 

Unter den oben genannten Prämissen muss sich Forschung auf folgende Gegenstände konzentrieren:

  • das Bildungssystem sowie die gegenwärtige Praxis;
  • andere, unterschiedliche Lernrealitäten;
  • Entwicklung und Erprobung von Konzepten für neue Praxisfelder.

 

In Bezug auf Sprachen bedeutet das zu erforschen, welche Relevanz Sprachen für die Partizipation in Zuwanderungsgesellschaften haben. Besondere Dringlichkeit hat hierbei die Erforschung der Rolle der Sprachen für die Schaffung von Chancengleichheit in (Berufs-)Bildungsprozessen. Hierbei ist kritisch zu beleuchten, ob die derzeit genutzten Instrumenteund Wege adäquat und auf Chancengleichheit ausgerichtet sind.

Als konkrete Forschungsaufträge bzw. -fragestellungen schlagen wir zum Beispiel vor:

Für den Bereich Schule

  • Überprüfung des Bildungsauftrages von Schule und Eltern, dabei sollten Ergebnisse aus Wissenschaft und Praxis im europäischen Kontext mitberücksichtigt werden;
  • Komparative Studien, bei der einerseits eine optimale Entwicklungsschiene, auf der der Zweitspracherwerb in zyklischer Progression von der Allgemeinsprache zu einer Bildungssprache fortschreitet, beschrieben wird, andererseits ein Modell dafür entwickelt wird, wie diese für QuereinsteigerInnen, die das Schulsystem nicht von Anfang an durchlaufen haben, aussehen kann.

 

In der Erwachsenenbildung

  • Entwicklung einer adressaten- und lebenslagengerechten Bedarfsanalyse für den Zweitspracherwerb hinsichtlich Bildungssprache, um Chancengleichheit im Bildungsprozess sicherstellen zu können;
  • Bedarfsermittlung für und Neukonzipierung von Fort- und Weiterbildung zur Umsetzung des oben genannten Paradigmenwechsels.