Transnationales ExpertInnenforum

Sprache und Migration

Mehrsprachigkeit fördern – Menschenrechte verwirklichen Deutschförderung mehrsprachig konzipieren:
Im Meer der Sprachen ist Deutsch nur eine Welle

 

Abschlusserklärung des
12. Transnationalen ExpertInnenforums „Sprache und Migration“

Graz im Mai 2012

 

Das transnationale ExpertInnenforum Sprache und Migration ist ein unabhängiger kritischer Kreis von Fachleuten, die in der Wissenschaft und der Unterrichts- und Fortbildungspraxis in den Bereichen Migrationsarbeit, Deutsch als Zweitsprache und Integrationsförderung arbeiten. Wir kommen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol/Italien. Anlass für die Konstitution des Forums war die Tatsache, dass die Gesetzgeber in Deutschland und Österreich den Nachweis der Kenntnis der deutschen Sprache mit Aufenthaltsrechten verknüpften, ohne dabei die Erkenntnisse aus Praxis und Wissenschaft ausreichend zu berücksichtigen.

Als kritisches Forum im Themenbereich Sprache und Migration greifen wir länderübergreifend in den Diskurs ein, indem wir Stellungnahmen zu Aspekten der Migration und Integration erarbeiten und verbreiten. Wir verstehen uns dabei als Gegenöffentlichkeit zur allgemeinen Debatte.

Die sprachliche Vielfalt der Bewohnerinnen und Bewohner der deutschsprachigen Länder hat sich ausdifferenziert und geht weit über die lang gewachsene europäische Mehrsprachigkeit hinaus. In der Stadt Graz, in der das Forum mit dem Themenschwerpunkt „Mehrsprachigkeit“ von 24. bis 26. Mai 2012 tagte, werden aktuell weit über 100 Sprachen gesprochen (dokumentiert vom Projekt MULTILINGUAL GRAZ).

Dieser Tatsache ist sowohl auf sprachenpolitischer wie auch pädagogischer Ebene Rechnung zu tragen. Lebensweltliche Mehrsprachigkeit muss in öffentlichen und institutionellen Bereichen ebenso berücksichtigt werden wie mehrsprachige Lernbiografien in der Schule. Nur wenn die in den letzten 50 Jahren gewachsene Sprachenvielfalt sichtbar gemacht und als Normalität anerkannt wird und Mehrsprachigkeit einen Platz in der Mitte der Gesellschaft bekommt, wird eine „Integration durch Sprache“, wie sie von den Regierungen verfolgt wird, gelingen.

Um das möglich zu machen, sind unserer Ansicht nach folgende Aspekte zu berücksichtigen:
Die Förderung des Deutschen als Zweitsprache an Schulen darf nicht auf Kosten einer Förderung der (individuellen) Mehrsprachigkeit stattfinden, sondern muss vielmehr mit dieser Hand in Hand gehen. Mehrsprachigkeit als Bildungsziel an Schulen zu verankern, bedeutet nicht Einzelsprachen oder einzelne Gruppen zu fördern, sondern alle Kinder in ihrer mehrsprachigen Entwicklung zu unterstützen, damit sie sich in einer vielsprachigen Welt zurechtfinden. Dazu gehört, die Aufmerksamkeit gegenüber Sprachen sowie die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen sprachlichen Situation zu entwickeln. Es geht außerdem darum, über Sprachen und ihre Bedeutung für Gruppen von Menschen orientiert zu sein und über linguistische Grundkenntnisse zu verfügen, damit sowohl die eigene, als auch andere sprachliche Situationen analysiert und verstanden werden können (Diese Ziele sind Grundlage des von Hans-Jürgen Krumm und Hans Reich entwickelten Curriculum Mehrsprachigkeit).

Mehrsprachigkeit als Bildungsziel an Schulen zu verankern bedeutet, sich vom gegenwärtig die Leistungsbeurteilungen dominierenden Kompetenzbegriff und den derzeitigen Zielformulierungen im Sprachunterricht zu verabschieden und einen Paradigmenwechsel in Bezug auf den Umgang mit Fehlern zuzulassen. Ergebnisse linguistischer Forschung im Bereich des mehrsprachigen Aufwachsens zeigen die Notwendigkeit, bestimmte sprachliche Konstruktionen als Stationen der mehrsprachigen Entwicklung zu erkennen und entsprechend zu würdigen und nicht als fehlerhaft zu bewerten. Unter dem Bildungsziel der Mehrsprachigkeit ist Sprache weniger etwas, was vermittelt, als etwas, deren Erwerb vielmehr ermöglicht werden muss. Die gegenwärtigen didaktischen Konzepte leisten das nur in sehr geringem Ausmaß, zumal in Bezug auf Sprachförderung in der Schule nicht ressourcen-, sondern defizitorientiert vorgegangen wird. Ressourcenorientierung im Kontext von Mehrsprachigkeitsförderung bedeutet auch, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Kinder anzuerkennen, weiterzuentwickeln und auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene als Ressource zu nutzen.

Der Kompetenzbegriff, wie er mit der Einführung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen den Sprachunterricht dominiert, umfasst nur unzureichend, was (neue) Sprache(n) - über bloße Kenntnisse und Können hinaus – für Menschen bedeuten. Grundlegend sind Achtsamkeit und Bewusstheit, die schließlich Haltungen sich selbst und anderen gegenüber beeinflussen. Die untrennbare Verbindung von Sprachen und Identität wird durch die Beschränkung auf operationalisierbare und messbare Zielformulierungen und Kompetenzbeschreibungen nicht adäquat erfasst. Sie dient vielmehr der Forderung nach Vergleichbarkeit und Qualitätskontrolle. Dabei wird übersehen, dass die Qualität der Sprachförderung durch einen unrealistischen Leistungszwang verloren geht. Mehrsprachigkeit und sprachliche Identitäten sind veränderlich und dynamisch und können kaum punktuell und/oder summativ erfasst werden.

Die Entkoppelung des Sprachenlernens von den Menschen und ihren individuellen Biografien, konkreten Lebenssituationen und spezifischen kommunikativen Bedürfnissen verweist auf die fehlende Anerkennung der Mehrsprachigkeit und von Mehrfachzugehörigkeiten in unserer Gesellschaft. Individuelle Mehrfachzugehörigkeit meint die lebensweltlich gleichzeitige und transnationale Verbundenheit zu mehreren Kulturkreisen und zu mehr als einer einzigen Sprache. Es sind dies Formen des sprachlichen und kulturellen Grenzgängertums, wonach eindeutige, singuläre Zuschreibungen zu einer oder der anderen (Sprach)Gruppe nicht mehr möglich sind (z.B. plurale Identitätsentwürfe, hybride Identitäten). Mehrsprachigkeit ist nicht nur aus linguistischer oder sprachpädagogischer Sicht zu betrachten, sondern bedarf sozialwissenschaftlicher Perspektiven. Dazu gehört auch, dass der Begriff der Sprachkompetenz nicht ohne Berücksichtigung der sozialen Bedingungen des Sprachgebrauchs und seiner Machtdimension zu verstehen ist: Wer sprechen darf, wer gehört wird und vor allem, welche Sprache und Sprechweise als „richtig“ anerkannt ist, hängt von der Normalitätserwartung der dominanten Gruppe ab. Diese Norm wirkt auf institutioneller wie auch medialer Ebene und ist von einer einsprachigen und nationalstaatlichen Identitätsvorstellung geprägt.

Aus der Sicht des Forums muss ein Verständnis für Mehrsprachigkeit als Möglichkeit zur Öffnung und als Teil von pluralen Identitätsentwürfen im schulischen Bereich ebenso verankert werden wie in der Erwachsenenbildung. Mehrsprachigkeit darf nicht als das „Andersartige“ betrachtet werden, sondern die lebensweltliche Mehrsprachigkeit sollte als Ressource wahrgenommen und gefördert werden.