Transnationales ExpertInnenforum

Sprache und Migration

Integration fördern – Menschenrechte verwirklichen
Für eine ressourcenorientierte Integration statt verpflichtender Nachweise von Sprachkenntnissen

 

Abschlusserklärung des
9. Transnationalen ExpertInnenforums Sprache und Migration

Wien/Österreich im Mai 2010

Das 9. Transnationale ExpertInnenforum Sprache und Migration fand unter Teilnahme von ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis vom 30. 4. bis 1. 5. 2010 in Wien statt.

Vier Jahre nach der Einführung des verpflichtenden Nachweises von Deutschkenntnissen in Österreich und Deutschland und der Gründung des ExpertInnenforums stand das Treffen unter dem Aspekt der Rückschau/Reflexion der sprachen- bzw. integrationspolitischen Maßnahmen dieser letzten Jahre und ihrer Ergebnisse.

 

Die Expertinnen und Experten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol legen anlässlich des 9. Transnationalen ExpertInnenforums in Wien folgende Erklärung vor:

 

Die Analyse der politischen Entscheidungen in Bezug auf verpflichtende Kenntnisse der Landessprache von Zuwandernden der deutschsprachigen bzw. europäischen Länder zeigt, dass diese von Willkür geprägt sind. Es fehlen wissenschaftliche Untersuchungen und Erkenntnisse, die die gegenwärtige Fremdenrechtspolitik rechtfertigen würde, indem durch sie evident würde, wie viel bzw. welche Sprachkenntnisse MigrantInnen tatsächlich für die aktive gesellschaftliche Teilnahme im Aufnahmeland brauchen und wie sie diese am effektivsten erwerben. Dies hat zur Folge, dass die EntscheidungsträgerInnen unterschiedlicher Länder auch ganz unterschiedliche Anforderungen festlegen, und zeigt gleichzeitig die Problematik dieser Entscheidungen. Vor allem auch etwa bei der Tatsache, dass nur Angehörige von Drittländern verpflichtet werden, handelt es sich um willkürliche Bestimmungen diskriminierenden Charakters.

Die ausschließliche starke Betonung der Wichtigkeit der Landessprache(n) - ohne Berücksichtigung individueller Mehrsprachigkeit - stellt einen Rückfall in Nationalismen dar, die weder den Verfassungen der einzelnen Staaten noch einer gesamteuropäischen Sichtweise entsprechen. Die Wahrnehmung der ZuwandererInnen aus Drittstaaten ist eine defizitorientierte, von institutionellem Misstrauen geprägte, die einer die Menschen- und Sprachenrechte wahrenden Haltung nicht gerecht wird.


Vertrauen in die Fähigkeiten der Menschen legen
Förderung und Entwicklung von (mitgebrachten) sprachlichen und beruflichen Ressourcen

Als Expertinnen und Experten fordern wir eine Sichtweise, die das Individuum als ein in jeder Hinsicht wichtiges und beitragendes Wesen einer Gesellschaft begreift. ZuwandererInnen dürfen nicht auf ihre mangelnden Deutschkenntnisse beschränkt betrachtet, sondern müssen mit all ihren Kompetenzen und Fähigkeiten wahrgenommen und respektiert werden. Statt jene Personen, die ohnehin permanent politischen Entscheidungen ausgesetzt und gesellschaftlich exponiert sind, noch zusätzlich einem hohen Rechtfertigungsdruck zu unterwerfen, sollten sie als Menschen geachtet und in ihrer Mehrsprachigkeit respektiert und gefördert werden.


Spracherwerb und -anwendung ist eng mit der eigenen Identität und dem Selbstwert verbunden – Sprache kann nicht ohne ihre identitätsstiftende Bedeutung betrachtet werden.


Bei Test- und Überprüfungsverfahren der Deutschkenntnisse von MigrantInnen muss daher mit besonderer Sensibilität vorgegangen werden. Es muss zu einer faktischen Anerkennung und Wahrnehmung sprachlicher wie fachlicher/beruflicher Kompetenzen und Qualifikationen kommen. Statt des Einsatzes monolingualer (nur deutschsprachiger) Testverfahren gilt es, die Förderung von Sprachenvielfalt und die Stärkung der Erst- und Herkunftssprachen von ZuwandererInnen sowie auch der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit ins Zentrum zu rücken.


Maßnahmen für den Spracherwerb durchführen und evaluieren
Förderdiagnostik statt Ausschlussdiagnostik

Als Expertinnen und Experten beobachten wir, dass sich die Einführung verpflichtender Kurs- und Prüfungsmaßnahmen im Rahmen der „Integrationsvereinbarung“ in Deutschland und Österreich negativ auf die Kurslandschaft ausgewirkt hat. Die Träger- und Kurslandschaft ist durch die Neustruktur ärmer geworden, es wird schwierig, Kurse anzubieten, die den tatsächlichen Bedürfnissen der TeilnehmerInnen entsprechen. Auch Lernbiographien brechen häufiger ab, wenn die Motivation zum Kursbesuch nicht mehr aus individuellen Interessen resultiert, die das Suchen und Finden eines passenden Angebots bestimmt, sondern von Zwang und der Erfüllung äußerer Kriterien festgelegt wird.

Wir verfügen bisher über keine Nachweise darüber, ob die durch die neuen Gesetzgebungen in Kraft getretenen Maßnahmen dem Spracherwerb von ZuwandererInnen bzw. deren Integration tatsächlich dienen. Die Evaluationsmethoden der Kurse (TeilnehmerInnenzahlen, Prüfungsquoten,...) sind insofern anzuzweifeln als sie weder „durchschaubar“ sind (es fehlt an Vergleichbarkeit und es existieren Berichte nur über jene, die die Kurse besuchen und keine Bedarfserhebung jener, die „verweigern“) noch für das Messen des „Integrationserfolgs“ relevant.

Für die Erfolgsmessung getroffener Maßnahmen wären umfassende Befragungen von Betroffenen, TeilnehmerInnen, KursträgerInnen und Unterrichtenden notwendig, und vor allem müssten Verfahren entwickelt werden, mit denen auch nach einer gewissen Zeit nach Kursende die Nachhaltigkeit der Maßnahmen evaluiert werden könnte, um Aussagen über den Zusammenhang zwischen Deutschspracherwerbsmaßnahmen und Integration treffen zu können.

Zurzeit nehmen die ExpertInnen aus der Praxis eine zunehmende Reduktion der Kurse auf die verpflichtende Prüfung wahr. Dies behindert eine Orientierung der Lerninhalte an den Bedürfnissen der Lernenden – die verpflichteten Tests dienen weder sprachlichen Interessen noch sind sie relevanter Indikator für den Kurserfolg. Sie fungieren in diesem Zusammenhang lediglich als Zwangs- und Selektionsinstrument.Für die Zielgruppe besser geeignet wären Diagnoseverfahren, die die individuellen Ziele des Spracherwerbs im Blick behalten und Kompetenzen der LernerInnen beschreiben (anstatt bewerten), um daraus nützliche Rückmeldungen über den Spracherwerb tätigen und adäquate Fördermaßnahmen ableiten zu können.

 

Gleichbehandlung von Zuwandererinnen und Zuwanderern
Sprachenlandschaften fördern

Als Expertinnen und Experten stellen wir eine Ungleichbehandlung der Zuwanderungsgruppen fest, die sich auf Kurslandschaft und TeilnehmerInnenstruktur negativ auswirkt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Personen abhängig von ihrer Herkunft stärker „integrationsbedürftig“ sein sollten bzw. verpflichtende Deutschförderung brauchen, während andere nicht Deutsch lernen müssen und umgekehrt und auch gar keinen Anspruch auf Förderung haben. Ebenso unverständlichist die Tatsache, dass immer weniger spezifische Kursangebote bzw. Kurse auf höheren Sprachniveaus gefördert angeboten werden können, was dazu führt, dass die KursträgerInnen den Bedürfnissen ihrer TeilnehmerInnen im Angebot nicht mehr entsprechen können und letztendlich Personen, die ihre Deutschkenntnisse weiter verbessern wollen, dazu keine Möglichkeiten finden.

Die Expertinnen und Experten des 9. Transnationalen Forums fordern, dass sich die europäischen Staaten ihrer Grundwerte sowie der Menschen- und Sprachenrechte besinnen und ZuwandererInnen als die Gesellschaft bereichernde Personen begreifen, die in ihrer Individualität und mit ihren Kompetenzen gesehen werden.Sprachen und individuelle Mehrsprachigkeit müssen als Teil dieser Individualität anerkannt und gefördert werden – mit Verfahren, die nicht der Selektion dienen und Zwang und Druck ausüben, sondern die MigrantInnen beim Erweitern ihrer Kompetenzen fördern und unterstützen.Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit muss in diesem Zusammenhang endlich als gegeben akzeptiert und entsprechend genutzt werden.